VERTRAUEN
Die beginnende Nachtschicht in der Notaufnahme ist arbeitsreich. Assistenzärztin Regina Scholl, die diensthabende Medizinerin in der Klinik Rothenburg an diesem Abend, wechselt zwischen den Behandlungszimmern hin und her. Begutachtet jeden Patienten, leitet Untersuchungen ein und bewertet die Ergebnisse. Unterdessen klingelt nahezu ständig eines ihrer Telefone. Eine ganz normale Schicht in der Notaufnahme.
Und dann sieht sie Dr. Mathias Kilian im Gang stehen. Nicht dass es ein ungewohnter Anblick in der Klinik wäre. Der Narkosearzt ist schließlich Chefarzt der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin, Leiter der Intensivstation (mit PD Dr. Christian Wacker) und Ärztlicher Direktor der Klinik Rothenburg.
Doch er steht dort nicht in weißer Hose und Kasack, der Standardbekleidung aller Mediziner und Pflegenden, sondern in Jeans und Hemd. Seine Ehefrau ist auch dabei. Assistenzärztin Regina Scholl wundert sich.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragt Scholl. Sie kann. Denn Dr. Kilian berichtet über wiederkehrende Schmerzen im Oberarm. Nicht links, wo sie in jedem Fall ein Alarmzeichen für einen Herzinfarkt wären, sondern rechts, was seltener ist. Alles nicht dramatisch, sagt der Ärztliche Direktor, aber die Schmerzen seien beständig und würden zunehmen. Ob die Kollegin mal nachschauen könne.
Um die Situation zu verstehen, muss man Folgendes wissen: Dr. Mathias Kilian ist kein Chefarzt mit überbordendem endungsbewusstsein, im Gegenteil. Eine Sonderbehandlung aufgrund seiner Position wäre ihm zuwider.
ER IST EIN TEAMSPIELER, DER DIE MANNSCHAFT ANFÜHRT, OHNE DAS STETS HERAUSSTELLEN ZU MÜSSEN.
Das zeigt sich nicht zuletzt in Stresssituationen. Als Anfang 2023 eine schwerstverletzte Patientin mit dem Rettungshubschrauber von der Klinik Rothenburg ins Universitätsklinikum Würzburg (UKW) verlegt werden muss, leitet Dr. Kilian das Schockraumteam. Zehn Personen sind im Raum und arbeiten fieberhaft. Die Frau ist kurz zuvor mit dem Notarzt in die Notaufnahme gekommen. Es besteht akute Lebensgefahr.
Dr. Kilian befindet sich am Kopfende der Patientin. Ruhig hat er das Geschehen im Blick und übergibt alle relevanten Informationen an den Hubschrauberarzt Dr. Hermann Schröter. Die Atmosphäre ist gespannt, aber nie hektisch. Wenige Minuten später hebt der Hubschrauber mit dem Rufzeichen „Christoph 65“ in Richtung Universitätsklinikum ab (ANgesicht Ausgabe 10).
Die Patientin überlebt, was zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar ist. Später wird sich das UKW lobend über die gute Erstversorgung in der Klinik Rothenburg äußern. Solch ein Kompliment von einem Universitätsklinikum ist nicht alltäglich.
Dr. Mathias Kilian war selbst lange Anästhesist am UKW, bevor er als Chefarzt an die Klinik Rothenburg wechselte. Hört man sich bei ehemaligen Weggefährten um, ist das Meinungsbild klar. „Kilian? Guter Mann!“
Als Patient in der Notaufnahme folgt der Chefarzt nun den Fragen und Anweisungen der Assistenzärztin. Regina Scholl räumt ein, dass es schon ungewöhnlich war, als junge Medizinerin den Ärztlichen Direktor zu untersuchen.
„ER WAR IN DER SITUATION ABER SEHR ENTSPANNT UND KOOPERATIV“,
sagt Scholl und fügt lachend hinzu: "Das hat auch mir geholfen."
In mehreren Untersuchungen stellt Assistenzärztin Scholl tatsächlich Auffälligkeiten bei Dr. Kilian fest. Klarheit soll eine Untersuchung im Herzkatheterlabor geben. Da keine akute Lebensgefahr besteht, wird dies am nächsten Morgen geschehen.
Dr. Kilian will sich für die Nacht in sein Arztzimmer zurückziehen, wo es eine Couch für ihn gibt.
BLOSS KEINE UMSTÄNDE MACHEN.
Regina Scholl entlockt seine zurückhaltende Art heute noch ein Lächeln.
„AUF GAR KEINEN FALL LASSEN WIR JEMANDEN UNBEOBACHTET IN EINEM RAUM LIEGEN, ZU DEM WIR KEINEN DIREKTEN ZUGANG HABEN“,
sagt die Assistenzärztin. Sie verlegt den Chefarzt wie jeden vergleichbaren Patienten auf die Station, Monitoring für den Rest der Nacht inklusive.
Dr. Kilian ist sich bewußt, dass seine Anwesenheit wie ein Lauffeuer durch das Haus gehen wird. Der ANregiomed-Standort Rothenburg ist eine überschaubare Klinik. Im Grunde kennt hier jeder irgendwie jeden.
Er wohnt sogar näher an einer anderen Klinik, die ihm mehr Anonymität verschafft hätte.
DOCH ER VERTRAUT DEN MENSCHEN, MIT DENEN ER SEIT JAHREN ZUSAMMENARBEITET.
Am folgenden Morgen ist Privatdozent Dr. Christian Wacker der diensthabende internistische Kardiologe im Herzkatheterlabor. Beide Chefärzte kennen und schätzen sich seit Jahren. Sie treffen quasi täglich auf der Intensivstation zusammen.
„Zuallererst ist er ein Patient, der hier wie jeder andere auch behandelt wird“, sagt Dr. Wacker. „Und man muss eine professionelle Distanz wahren, um fachlich nüchtern entscheiden zu können. Gerade wenn es ein langjähriger Kollege ist.“
Dr. Wacker führt über das rechte Handgelenk einen 1,3 Millimeter dünnen Katheter in die Blutbahn ein und arbeitet sich bis zum Herzen vor. Dr. Kilian ist bei diesem Eingriff wach und verfolgt die Untersuchung auf einem großen Flachbildschirm, den auch Dr. Wacker im Blick hat.
So erfährt Dr. Kilian quasi live, dass er tatsächlich einen Infarkt hatte und sich eine bedrohliche Engstelle in einem Blutgefäß gebildet hat. Unbehandelt würde dies einen baldigen Verschluss verursachen und damit zu einem massiven Herzinfarkt führen.
Doch es gibt auch eine gute Nachricht. Die Engstelle kann von Dr. Wacker sofort in Rothenburg behandelt werden. Eine herzchirurgische Operation an einer größeren Klinik ist nicht nötig.
So wird Dr. Kilian weiter Zeuge, wie ihm in den folgenden Minuten drei sogenannte Stents implantiert werden. Sie dehnen das Blutgefäß und verhindern dauerhaft eine weitere Verengung. Das Blut fließt wieder ungehindert zum Herzen.
Die folgenden 24 Stunden verbringt Dr. Kilian auf der Intensivstation. „Bei einem erfahrenen Mediziner kann es natürlich passieren, dass er sich selbst diagnostiziert und den Kollegen Ratschläge in eigener Sache gibt. Er ist ja schließlich vom Fach“, sagt Dr. Wacker. Doch auch hier bleibt Dr. Kilian in seiner zurückgenommenen Rolle.
„Er war ein Traumpatient“, sagt Dr. Wacker. „Doch ein Herzinfarkt ist auch eine Zäsur, die man bewältigen muss.“
Dr. Mathias Kilian ist nach der Reha wieder im Dienst. Er bewegt sich mehr, isst „weniger Nudeln, mit Käse überbacken“
UND GEHT DAS LEBEN EIN STÜCK BEWUSSTER AN.