DER KÜMMERER
Rainald Kiene und Daniel Reu stehen sich im Nichtschwimmerbecken gegenüber. Das Wasser reicht beiden gerade bis zum Brustkorb. Es ist früher Abend, sie haben das Rothenburger Freibad fast für sich allein. Nur eine Seniorengruppe macht Wassergymnastik im anderen Becken. Und drei verbliebene Kinder kosten die letzten Sonnenstrahlen auf der Wasserrutsche aus.
Rainald Kiene ist Unfallchirurg, Daniel Reu sein Patient. Sie kennen sich vom regelmäßigen Schwimmen. Zwischen dem endlosen Bahnenziehen kommen beide am Beckenrand ins Gespräch. Daniel Reu ist ambitionierter Triathlet mit einer Schulterverletzung aus dem Frühjahr. Er hatte sich bei einem Sturz die Schulter ausgekugelt.
Rainald Kiene hört sich seine Geschichte an und will sich das genauer ansehen. Er bittet Daniel Reu in seine Sprechstunde im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) und setzt kurz darauf eine ambulante Operation in der Klinik Rothenburg an. Am gleichen Abend kann Daniel Reu schon wieder nach Hause gehen.
Diese ärztliche Nachsorge ist nicht Teil einer abrechenbaren Krankenkassenleistung. Es gehört schlicht zum Anspruch Kienes an seine Arbeit.
ER WILL, DASS ES GUT WIRD. ZUALLERERST FÜR DEN PATIENTEN. RAINALD KIENE KÜMMERT SICH.
Darf man also einen langjährigen Sektionsleiter der Unfallchirurgie und Sportorthopädie als Kümmerer beschreiben? Ist es despektierlich, vielleicht sogar respektlos?
Rainald Kiene hat eine chirurgisch-orthopädische Ausbildung, die es so nicht mehr gibt. Während die Medizin heute zur Spezialisierung neigt, ist er als Operateur breit aufgestellt. Trotzdem hat er sich auf Schulter und Knie spezialisiert. Dazu kommen Jahrzehnte an Erfahrung.
FÜR DIE KLINIK ROTHENBURG IST DAS EIN GLÜCKSFALL.
Dabei hält Kiene sich nicht für einen Alleskönner. „Man muss seine persönlichen Grenzen und die einer überschaubaren Klinik kennen“, sagt Rainald Kiene. „Es gibt seltene Eingriffe, die müssen von Spezialisten vorgenommen werden. Dabei profitieren die Patienten von unserer Zusammenarbeit im Klinikverbund und mit den Universitätskliniken.“
IM ZUGE DER GESUNDHEITSREFORM WERDEN JEDOCH AMBULANTE EINGRIFFE EINE GRÖSSERE ROLLE SPIELEN.
Der Patient kommt also morgens in die Klinik und kann sie in derRegel am späten Nachmittag schon wieder verlassen. Selbst nach einer Schulter-OP wie bei Daniel Reu ist das inzwischen kein Problem mehr. „Und als Klinik haben wir immer die Option, den Patienten über Nacht hierzubehalten, falls es doch nötig sein sollte“, sagt Rainald Kiene.
Zum Schwimmen ist Rainald Kiene übrigens wieder gekommen, weil sein Körper an eine Grenze kam.Die meiste Zeit stehen Operateure leicht vornübergebeugt über dem OP-Tisch. Schulter- und Rückenschmerzen gelten bei Chirurgen als berufsbegleitende Erscheinung. So auch bei ihm.
„Ich war irgendwann mit meiner Schwester bei einem Konzert. Nach 15 Minuten musste ich mich auf den Boden setzen, weil die Rückenschmerzen zu stark wurden. Da war spätestens klar, dass etwas passieren muss“, sagt Kiene.
Heute trifft man ihn drei- bis viermal die Woche nach der Arbeit im Freibad Rothenburg an. Eine Stunde lang gleitet er durch das 50-Meter-Becken, meist kraulend oder in Rückenlage.
„MAN LÄSST DEN ÄRGER IM WASSER UND TANKT GLEICHZEITIG NEUE KRAFT“,
sagt Kiene. Und das sieht man ihm auch an. „Wenn ich später mal am Beckenrand so aussehe, dann habe ich was richtig gemacht“, sagt ein Assistenzarzt, der halb so alt wie Rainald Kiene ist.
Dass er an diesem Beckenrand mit jemandem ins Gespräch kommt, den er kurz darauf erfolgreich operiert, ist eine Art klassischer Kiene.
Er will, dass es gut wird. Und er kümmert sich.