FRÄNKISCHER MISSIONAR
MANFRED KÜNZEL GREIFT NACH SEINEM GEHSTOCK UND FÜHRT INS PARADIES.
Die Terrasse verlassend, geht er ein paar Stufen hinunter in den großartigen Garten. Kleine Schritte, den Oberkörper ein wenig vornübergebeugt, aber sicher in der Ausführung.
Hier und da verweilt er kurz, erklärt eine Pflanze oder ein Kunstwerk, von denen sich so einige auf dem Grundstück befinden. Alle Werke zeichnen sich durch feinen Humor aus, so wie er auch. Und es geht zielstrebig weiter: zu den Tomatenpflanzen, zum Teich, zu den Hochbeeten. Das Dach des Gewächshauses bleibt offen, weil dort ein Vogel nisten will. Künzel lächelt.
PARKINSON? SPIELT IN DIESEN MOMENTEN KEINE ROLLE.
Manfred Künzel ist 87 Jahre alt. Er kommt gerade aus einer dreiwöchigen Behandlung im Klinikum Ansbach, die speziell auf Parkinson- Patienten ausgelegt ist. Neben den Neurologen kümmern sich Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden täglich um ihn. Hirn, Muskeln und alles dazwischen werden gezielt angeregt.
Es ist ein strammes Programm, das ihn fordert, körperlich und geistig. An den Wochenenden erholt er sich auf seinem Zimmer.
„MEIN MANN IST NACH DIESEN DREI WOCHEN EXTREM MOTIVIERT, ER LEBT WÄHREND DER BEHANDLUNG AUF“,
sagt Dr. Jutta Hartmann, eine ehemals niedergelassene Medizinerin. „Und er bekommt in dieser Zeit auch ein ganzes Stück Würde zurück.“
Kaum etwas hat Manfred Künzel bis zu dieser Erkrankung ein Limit gesetzt. Schon in seiner Kindheit nicht.
Er wächst in der kleinen Ortschaft Silberbach bei Selb auf. In jeder Himmelsrichtung gibt es nur Wald. Und ein paar hundert Meter östlich die Grenze zur damaligen CSSR. Die Gegend wird auch Bayerisch Sibirien genannt.
Als Manfred Künzel aufwächst, beginnt zum Ende der vierziger Jahre der Kalte Krieg heiß zu werden. Der Eiserne Vorhang, die Grenze zwischen den Machtblöcken, ist da noch kein Bollwerk. Eher ein besserer Weidezaun, an dem jedoch schon patrouilliert wird. Was ihn und seine Freunde nicht von Mutproben abhält.
DAS EXTREME WIRD SCHNELL ZUR NORMALITÄT
Auf der anderen Seite wächst die Schwarzwurzel. Leicht süßlich, würzig, nussig im Geschmack. Eine Delikatesse, die es rüberzuholen gilt. Manfred Künzel hat einen nahen Verwandten beim bayerischen Zoll. Er kennt deren Wege, wo und wann sie in etwa Streife laufen. Die tschechischen Grenzsoldaten machen ihm damals weniger Sorgen. Jugendliche Unbekümmertheit.
Trotz allem ist es ein hochgefährliches Unterfangen.
EIN ERSTES ABENTEUER: HINÜBER IN DEN VERBOTENEN OSTEN.
Wenige Jahre später hätte er solch einen Grenzübertritt kaum überlebt.
Als er Anfang der 1960er Jahre als junger Erwachsener am Theologischen Institut in Neuendettelsau das Studium der Missionstheologie beendet, macht er sich auf einen Weg, der weiter kaum sein könnte: in den Dschungel von Papua-Neuguinea. Das nächste Abenteuer. Allein die Anreise per Schiff dauert drei Wochen.
Das Extreme wird schnell zur Normalität. Als Missionar erlebt er entlegene Täler und Hochebenen, in denen noch nie ein weißer Europäer war. Der Weg dorthin dauert manchmal Tage. Erst mit dem Land Rover, dem einzigen Fahrzeug, das den widrigen Bedingungen standhält. Solange es eine Piste gibt.
Und dann weiter zu Fuß quer durch den Dschungel. Im Gänsemarsch, denn es führen nur schmale Pfade durch die dichte Vegetation. Flüsse werden am Seil gequert. Heute würde man sich mit Karabinern sichern, damals müssen die bloßen Hände reichen. Und am Ende des Tages hat Manfred Künzel ein halbes Dutzend Blutegel an jedem Bein kleben.
Seine Abenteuerlust ist dennoch ungebrochen. Als er am Steuer des vollbesetzten Land Rover eine wacklige Hängebrücke quert, stoppt er den Wagen auf halbem Weg. Zum Entsetzen seiner Mitreisenden steigt Künzel seelenruhig aus, geht zurück und macht zwei Bilder. Eins in Farbe, ein weiteres
in Schwarz-Weiß.
Zehn Jahre bleibt Manfred Künzel in Papua-Neuguinea und kehrt erst 1974 nach Franken zurück. Bis zu seinem Ruhestand wird er zwei Pfarrstellen, erst in Bertholdsdorf bei Windsbach und später in Bernstein bei Wunsiedel, übernehmen.
In seinem umfangreichen Archiv findet Manfred Künzel das Bild mit dem Land Rover auf der Brücke fast auf Anhieb. Und er berichtet auch noch über kleine, scheinbar unwichtige Details an diesem Tag, obwohl die Szene auf der Brücke jetzt gut 60 Jahre her ist.
SEINEN GEIST HAT IHM DIE KRANKHEIT DEFINITIV NICHT GENOMMEN.
„ PARKINSON KAM, OHNE ZU FRAGEN“,
sagt seine Frau rückblickend. Schleichend und schubweise ging das vor sich. Seine Mimik veränderte sich zuerst. Manfred Künzel ist ein Schelm mit hintersinnigem Humor, stets garniert mit einem Lächeln. Und das verschwand immer öfter. Doch die Rolle des grimmigen älteren Herrn passt nicht zu ihm.
Irgendwann hing sein linker Arm schlaff nach unten und der Geruchssinn verschwand. So etwas gilt als Vorsymptom. Dazu kamen Schlafstörungen und Schwindel.
„ ALS LAIE HÄTTE MAN ES LANGE NICHT GESEHEN“,
sagt Dr. Jutta Hartmann. Vor 15 Jahren wurden sie und ihr Mann bei Professor Jürgen Winkler an der Universitätsklinik Erlangen vorstellig. Er leitet dort die Molekulare Neurologie und gilt als Parkinson- Experte. „Ohne ihn wären wir in keinem Fall so weit gekommen“, sagen die Eheleute übereinstimmend.
PARKINSON IST EINE BISLANG UNHEILBARE KRANKHEIT.
Sie gilt als die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung gleich nach der Alzheimer-Krankheit. In Deutschland gibt es rund 200.000 Betroffene mit stark steigender Tendenz. Die große Mehrzahl ist mindestens 60 Jahre alt. Allerdings erkranken zehn Prozent der Patienten vor dem 50. Lebensjahr, und es gibt auch wenige Fälle bei sehr jungen Menschen. Zittern der Gliedmaßen sowie verlangsamte und eingeschränkte Bewegungen sind die auffälligsten Symptome.
Männer trifft es deutlich häufiger als Frauen. Die Gründe dafür sind noch nicht erforscht.
„ AUCH UNSERE PARKINSONKOMPLEXBEHANDLUNG KANN NUR DIE SYMPTOME LINDERN“,
sagt Privatdozentin (PD) Dr. Julia Köhn, Chefärztin der Klinik für Neurologie bei ANregiomed. Mit Manfred Künzel und Dr. Jutta Hartmann spricht sie offen über den Krankheitsverlauf. „Es wird zweifelsohne voranschreiten,
ABER WIR KÖNNEN ES LEBENSWERTER GESTALTEN.“
Dass die Behandlung bei Manfred Künzel so gut anschlägt, hat auch viel mit ihm selbst zu tun. Wenn die Therapeuten kommen, arbeitet er konzentriert mit und geht keiner Anstrengung aus dem Weg.
Mit Physiotherapeutin Stephanie Martin und seinem Rollator ist er auf dem Stationsgang vor seinem Zimmer zügig unterwegs. Kaum sind beide um die Ecke verschwunden, tauchen sie auch schon wieder auf. Anspruchsvoller sind anschließend noch die Übungen mit einem Ball, den Manfred Künzel an der Wand entlangführen muss.
„Herr Künzel ist ein wirklich angenehmer Patient, das ganze Team mag ihn sehr“, sagt auch Ergotherapeutin Anna Winter, die ihn schon von früheren Aufenthalten kennt.
Sie spielt gerne Memory mit ihm. In einer Version, die speziell für ältere Patienten ausgelegt ist.
„Da merkt man schnell, dass Parkinson ihm nicht den Humor genommen hat“, sagt Winter.
Das bestätigt seine Ehefrau nachdrücklich. „Ohne den Humor hätten wir nicht überlebt“, sagt Dr. Jutta Hartmann. „Es ist eine entwertende Krankheit, mit der man auch sozial eingeschränkt ist.
UMSO MEHR DARF MAN DAS LACHEN NICHT VERGESSEN.“
Am Ende der Gartenführung lässt sich Manfred Künzel auf einem Stuhl nieder. Im grünen Dickicht hinter ihm herrscht reger Betrieb. Es ist spätes Frühjahr und die Vögel bauen an ihren Nestern. Das ist ganz in seinem Sinne.
Als seine Frau Jutta und Hund Lucy vorbeikommen, schafft es die Sonne kurz durch die Wolken. Gleich wird es Kartoffeln mit einem hervorragenden Olivenöl geben, dazu grünen Salat und frische Kräuter aus dem Hochbeet zu seiner Linken.
„Mit Kartoffeln hast du immer ein gutes Essen“, sagt Manfred Künzel.
ALLES MIT EINGERECHNET, KÖNNTE ER IN DIESEM MOMENT KAUM ZUFRIEDENER SEIN.