DUNKLE DISZIPLIN
Dr. Cathrin Böhners Tag beginnt mit der Nacht. Ab sieben Uhr früh sitzt sie in ihrem abgedunkelten Büro vor zwei Monitoren, einer davon hochauflösend. In der linken Hand hält sie ein Diktiergerät mit Schreibfunktion, in der rechten die Maus. Über die nächsten 50 Minuten wird sie alle Röntgenaufnahmen und CT-Bilder aufrufen, die in den letzten zwölf Stunden an den ANregiomed-Standorten erstellt wurden. 50 Minuten deswegen, weil in 55 Minuten ihr Team zur Frühbesprechung zusammenkommt.
Mit leiser Stimme spricht die Chefärztin Befunde in das Aufnahmegerät. Also das, was sie auf den Bildern sieht. Unregelmäßigkeiten. Dinge, die dort nicht hingehören. Das kann etwas Offensichtliches wie die Fraktur eines Armes sein. Oder der Hinweis auf einen winzigen Tumor, der Krebszellen durch den Körper schickt.
Etwas zu übersehen ist daher keine Option für Radiologen. Sie suchen nach den Fehlern im Bild. Vergleichbar mit den Bilderrätseln auf den letzten Seiten der Fernsehzeitschrift Hörzu – nur erheblich anspruchsvoller. Denn in letzter Konsequenz kann ein Leben davon abhängen.
ÜBER STUNDEN AUF EINEN MONITOR ZU BLICKEN, ERFORDERT DISZIPLIN.
Und da ist man bei Dr. Cathrin Böhner genau richtig. Denn auf die Frage, ob sie die ersten 50 Minuten ihrer Arbeit nicht auch über den ganzen Tag verteilen könnte, antwortet die Leiterin des Radiologischen Instituts am Klinikum Ansbach: „Auf keinen Fall.
DIE NACHT MUSS ERLEDIGT SEIN, BEVOR UNSER TAGESGESCHÄFT BEGINNT.
Die Kollegen brauchen die Befunde, um weiterbehandeln zu können. Und wir müssen uns um die aktuellen Patienten kümmern.“
Diese Arbeitshaltung hat sie weit gebracht. Anfang der 1990er Jahre bewirbt sich die aus Sachsen stammende Böhner auf eine Assistentenstelle am Universitätsklinikum Erlangen. Sie benötigt dafür eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der damaligen Gauck-Behörde, dass sie keine Zuträgerin der DDR-Staatssicherheit war.
Zu dieser Zeit herrscht in Deutschland Ärzteüberfluss, mehr als 90 Bewerbungen gehen in Erlangen ein. „Die nehmen mich eh nicht“, denkt sie. Eine junge Ärztin aus Ostdeutschland in einer universitären Männerdomäne? Keine Chance. „Und eigentlich wollte ich auch nicht in den Westen“, fügt sie lachend hinzu.
Prompt bekommt sie die Zusage. Und lebt jetzt seit über drei Jahrzehnten in Mittelfranken, seit Ende der Nullerjahre in Ansbach. Was übrigens sprachlich nicht ansatzweise auf sie abfärbt, ist sie doch ihrem sächsischen Dialekt immer treu geblieben.
„DA KOMME ICH HER, DAS IST MEINE HEIMAT“,
sagt Dr. Böhner. Regelmäßig besucht sie ihre Heimatstadt Zwickau.
Ihre fast schon preußische Arbeitseinstellung wird bei ANregiomed mindestens respektiert, von manchen auch ein wenig gefürchtet.
„ZUALLERERST KOMMT DER PATIENT. DAFÜR SIND WIR HIER, DAS IST DAS WICHTIGSTE“,
sagt sie. Alles andere stellt sie hintenan. Manchmal auch die Diplomatie.
Wenn die Dinge nicht optimal laufen, kann Dr. Cathrin Böhner deutlich werden. Egal wer ihr gegenübersteht. Nicht aus Eitelkeit oder Standesdünkel.
„Wir tragen Verantwortung für die Menschen, die zu uns kommen. Das ist die erste Priorität. Und manchmal muss das in Erinnerung gerufen werden“, sagt die Radiologin.
DIESE ART ENGAGEMENT IST ZEITINTENSIV.
Auch im zweiten Jahrzehnt als Chefärztin und Ärztliche Direktorin (derzeit stellvertretend) verlässt sie das Klinikum Ansbach regelmäßig nach zehn oder elf Stunden Arbeit. Meist mit einem Lächeln, egal wie der Tag war. „Ich bin noch keinen Tag meines Arbeitslebens wegen des Geldes in die Klinik gekommen“, sagt Dr. Böhner.
Viele junge Mediziner können sich aber durchaus ein Privatleben außerhalb der Klinik vorstellen. Stichwort Work-Life-Balance. Wenn Dr. Böhner diesen Begriff ausspricht, macht es den Eindruck, als würde sie in ein abgelaufenes Lebensmittel beißen. Es ist ein Generationenkonflikt, der durch den Fachkräftemangel noch deutlich verschärft wird.
Dabei steht sie ihrem jungen Team durchaus nahe. Sie kennt die Familienverhältnisse, weiß über die Kinder Bescheid und hält in ihrem Büro eine Gesprächscouch bereit.
„IHR IST EINE GUTE STIMMUNG WICHTIG“,
sagt der Leitende Oberarzt Dr. Michael Roch, ein freundlicher Mittelfranke. Überhaupt fällt auf, wie unaufgeregt es im Team zugeht. Trotz Personalmangels und viele Nacht- und Bereitschaftsdienste.
DAS GEHEIMNIS DAHINTER? „ALLES HANDVERLESENE MITARBEITER“,
sagt die Chefärztin und lächelt.
Dr. Cathrin Böhner erkrankte vor nicht langer Zeit schwer. So schwer, dass ihr Leben in Gefahr war. Sie ließ sich in ihrer eigenen Klinik behandeln. Von Menschen, die sie teils seit Jahrzehnten kennt. Währenddessen war im Flurfunk nur wenig über ihren Zustand zu hören. Nichts weiterzutragen ist eben auch ein Zeichen von Respekt.
Solch eine Episode ist eine Zäsur. Und eine Warnung:
NICHTS MEHR AUFSCHIEBEN UND DAS LEBEN MEHR GENIESSEN.
Dr. Cathrin Böhner könnte jetzt die meiste Zeit des Jahres ihre Füße im warmen Sand vergraben und salzige Luft einatmen.
Sie könnte. Aber vermutlich würde sie sich furchtbar langweilen. Also durchquert sie morgens kurz vor sieben das Foyer des Klinikums Ansbach, grüßt knapp und verschwindet in einem der Gänge. Einmal linksherum, nach den Aufzügen wieder nach rechts und noch einmal nach links. Dann steht sie vor ihrer Bürotür und betätigt das elektronische Schloss.
AB PUNKT SIEBEN SITZT SIE IM HALBDUNKEL MIT EINER TASSE KAFFEE VOR IHREN BEIDEN MONITOREN. UND ARBEITET DIE NACHT WEG.