InhaltFußzeile
ANgesicht Magazin

EINER FÜR ALLE, ALLE FÜR EINEN

Noch bevor man in seiner Einfahrt aussteigt, bevor man nur ein Wort mit ihm wechselt, drängt sich ein Verdacht auf: Die Fahrt zu Karl Gögelein nach Vorderbreitenthann hat sich jetzt schon gelohnt. Es ist später Vormittag und er begrüßt in Arbeitsklamotten, die bis zu den Knien klitschnass sind. Dazu trägt der 76-Jährige die rote Kappe einer amerikanischen Traditionsbrauerei, die nicht allen automatisch steht. Bei ihm wirkt sie wie angegossen.

Karl Gögelein kommt gerade aus dem Wald, genauer vom Waldrand. Er hat gehört, dass der Landwirt dort am Morgen mähen wird. Also streift er durch die noch feuchte Wiese und findet zwei Rehkitze, die schon kräftig genug sind und in den dichten Baumbestand flüchten. Sonst hätte er sie dorthin getragen. Zwei Leben, zwei „Kreaturen“, wie er sagt, vor dem sicheren Mähdrescher-Tod gerettet.

Karl Gögelein, der über zwei Jahrzehnte das dortige Revier betreute, spürt das Bedürfnis, nicht nur zu nehmen, sondern der Natur auch etwas zu geben. Der Kreatur eine Chance zu geben.

Wie er so mit nassen Hosenbeinen in der Einfahrt steht und unter seinem dichten Vollbart hervorlächelt, wird der schon erwähnte Verdacht zur Gewissheit: Karl Gögelein ist ein anständiger Zeitgenosse, der sich jetzt erstmal umziehen geht.

Im Januar 1973 beginnt er als Leiter des Archivs im damaligen Kreiskrankenhaus Ansbach. Die Position hatte zu dieser Zeit eine andere Bedeutung als heute. Sein Bereich war das Gedächtnis der Klinik, denn Computer standen nicht auf Schreibtischen, sondern bei der NASA. Bei Gögelein bündeln sich alle Informationen: Patientenakten, Arztbriefe, DIN-A3-große Röntgenbilder, Bauakten – alles von Relevanz geht durch seine Hände. Auch die Hauptstelle der Rohrpost befindet sich im Archiv.

„WIR WAREN EIN TEAM, NICHT NUR AUF DEM PAPIER.“

Publikumsverkehr hat er reichlich. „Vom Chefarzt bis zum Transportdienst kamen alle vorbei“, sagt Gögelein.

„ICH BIN DORT UNTEN AUFGEBLÜHT.“

Er erinnert sich auch gerne an Ute Frey (Seite 22), die immer gut gelaunt mit einem Wagen voller Akten um die Ecke kam.

Seine Arbeit hat hin und wieder düstere Seiten. Als in den 1970er Jahren eine Passagiermaschine mit mehreren Ansbacher Bürger/-innen auf den Balearen abstürzt, klingelt Gögeleins Telefon. Er sucht die Patientenakten heraus, um eine Identifikation der sterblichen Überreste auch über den Zahnstatus zu ermöglichen.

Routine ist dagegen das Lesen der Todesanzeigen in der Fränkischen Landeszeitung. Die Akten der verstorbenen ehemaligen Patient/-innen kamen dann in den Keller. „Es herrschte schon damals Platzmangel“, erinnert sich der Archivar.

Eine Anekdote darf in der Rückschau natürlich nicht fehlen. Als ein Adeliger zur Behandlung ins Krankenhaus Ansbach kommt, wird er regelmäßig von seiner Gattin besucht. Sie reist in einem Rolls-Royce samt Fahrer an, der stets einen Karton mit hauseigenen Schreibgeräten für die Belegschaft dabeihat. Die kleinen Dinge im Leben machen auch damals den Unterschied.

Karl Gögelein bleibt bis zum Sommer 1992 in der Klinik.

„EINER FÜR ALLE, ALLE FÜR EINEN – DAS WAR IMMER UNSER MOTTO“,

sagt er und schaut dabei auf seine beginnende Gänsehaut. „Da rührt’s mich gleich ganz.“

„Diese Einstellung fing oben an der Pforte an und ging bis hinunter zu mir ins Archiv. Wir waren ein Team, nicht nur auf dem Papier“, sagt Karl Gögelein.