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ANgesicht Magazin

SIE HILFT HIER. UND 1.700 KM ENTFERNT.

Es ist ein sonniger Morgen Ende März 2022, als Olha Onyshchenko zum ersten Mal nach Rothenburg ob der Tauber kommt. Obwohl seit fast zwei Jahren Assistenzärztin am Klinikum Ansbach, war sie noch nie hier.

„ICH ARBEITE VIEL“,

lächelt sie und biegt in ein Industriegebiet vor der Stadt ab. Ihr Ziel sind acht Europaletten, die in einer unscheinbaren Halle auf den Weitertransport warten. Medizinische Güter im Wert von 20.000 Euro – Güter, die dringend weitermüssen. Über zwei Landesgrenzen in Richtung Osten.

Internationale Transportlogistik gehört nicht zwingend zu den Qualifikationen einer Medizinerin in der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Doch dies sind außergewöhnliche Zeiten, vor allem für Olha Onyshchenko, 33 Jahre, Ukrainerin. Im Netz hat sie in Deutschland lebende Landsleute gefunden, die unentgeltlich Transporte ins Krisengebiet organisieren. Ihr Kontakt ist ein Ehepaar, dem sie jetzt per Handy die genauen Maße der Fracht übermittelt.

Sie alle bilden ein Freiwilligenkorps, das ohne feste Strukturen arbeitet. Eine Woche nach Abholung der Paletten hat Olha Onyshchenko Filmclips von der Verteilung der Fracht auf ihrem Handy.

DER TRANSPORT IN DIE UKRAINE VERLIEF EINWANDFREI.

Alles geht zurück auf die Anfrage eines ukrainischen Arztes, der in diesem Frühjahr an der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Klinikum Ansbach beginnen sollte. Der Konflikt verhindert erst einmal seine Anstellung, doch er bittet dringend um medizinische Verbrauchsmaterialien, die im OP benötigt werden. So startet ein Spendenaufruf an die ANregiomed-Belegschaft, der in Kooperation mit der Hilterhaus-Stiftung und weiteren privaten Geldgebern die fünfstellige Summe zusammenbringt.

Als Chefarzt Dr. Martin C. Koch seine Assistenzärztin für die Ukraine-Hilfsaktion mit ins Boot holt, beginnt für Olha Onyshchenko eine intensive Zeit. Wie hier mehrfach berichtet, ist ihr Beruf schon in normalen Zeiten eine Herausforderung. Doch jetzt telefoniert sie noch weit mehr als üblich.

„ES WAR EIN BISSCHEN VERRÜCKT. MEIN GANZER KOPF, MEIN HIRN STECKT IN DIESEM HANDY“,

lacht Onyshchenko und hält ihr Handy hoch.

Sie kauft nebenbei noch 2.000 Tourniquets ein, die zum Abbinden von lebensbedrohlichen Blutungen an Extremitäten dienen, also typischen Kriegsverletzungen. Am Ende wird die gesamte Fracht in die Ukraine aus 14 Paletten bestehen.

Für Olha Onyshchenko ist dies erst der Anfang ihres Engagements. Inzwischen hat sie zwei Mütter mit ihren Kindern aus dem Krisengebiet zu sich geholt und für sie eine Wohnung angemietet. Auch ihre Mutter und Großmutter, übrigens beide Krankenschwestern, wüsste sie gerne in Sicherheit, doch sie wollen das Land nicht verlassen. „Ich kann sie nicht überzeugen“, sagt Onyshchenko.

SIE LÄSST NUR SELTEN DURCHBLICKEN, WIE ES IHR WIRKLICH DAMIT GEHT.

Olha Onyshchenko versachlicht nach außen diesen Konflikt, man hört kein schlechtes Wort über die Angreifer. Es ist wohl der einzige Weg, einen klaren Kopf zu behalten.

Sie ist im Norden der Ukraine aufgewachsen. Fleißig sein, viel lesen, Fremdsprachen lernen – das bekommt sie aus ihrem Elternhaus mit. In der Schule erhält sie eine Goldmedaille für ihre akademischen Leistungen und studiert später Medizin in der Hauptstadt Kiew. 2019 nimmt sie ihre erste Deutschstunde. Seit einigen Wochen besitzt sie eine deutsche Approbation.

Als sie für ein Praktikum ans Klinikum Ansbach kommt, ist sie überrascht.

„IN DEUTSCHLAND IST MAN BEREIT, SEIN WISSEN WEITERZUGEBEN UND JUNGE KOLLEGEN ANZULERNEN."

„Das kannte ich so nicht“, sagt Onyshchenko, die eng mit dem leitenden gynäkologischen Oberarzt Andres Tapia zusammenarbeitet (ANgesicht 04). Dessen Professionalität und Arbeitsethik setzen Standards am Klinikum Ansbach.

„ICH LERNE, LERNE, LERNE STÄNDIG VON IHM“,

sagt Onyshchenko. „Es sind oft harte Tage, aber wenn ich am nächsten Morgen zum Dienst komme, ist er schon lange da.“

Ablenkung sucht sie nicht für sich, sondern für die Kinder der beiden Freundinnen.

„WIE SOLL MAN ERKLÄREN, WAS ZU HAUSE GERADE PASSIERT?“,

fragt Onyshchenko. An diesem Mittag kochen sie ukrainischen Borschtsch in ihrem Appartement: Eine Suppe aus Roter Beete, Weißkohl, Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten, am Ende Schmand obendrauf. Eigentlich auch mit Rindfleisch, heute jedoch sitzt eine Vegetarierin am Tisch. Es schmeckt herrlich.

Doch Sascha, die sechsjährige Tochter ihrer Freundin, kann sich für das Essen nicht recht begeistern. Sie rebelliert ein wenig und hört uneingeschränkt nur auf ihren Vater, mit dem sie täglich telefonieren. Die Familie sollte nicht auseinandergerissen werden, aber nachdem eine Rakete wenige hundert Meter neben der Wohnung  ingeschlagen war, machten sich Mutter und Tochter auf in Richtung Westen. Eigentlich würde Sascha dieses Jahr eingeschult werden. Doch wie es weitergeht, kann niemand sagen.

Auch Olha Onyshchenko telefoniert täglich in die Ukraine. Ihre Mutter hat kürzlich einen Hektar Kartoffeln angepflanzt.

ES SCHEINT, ALS WÄRE ALLES WIE IMMER. DIE REALITÄT KÖNNTE ANDERS KAUM SEIN.