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ANgesicht Magazin

ZUHÖREN

Hinter der Wohnungstür, im Zimmer am Ende des Flurs, erkennt man gleich die Bierbank-Garnitur. Sie steht zwischen dem Fenster und einem respektablen Flachbildschirm, der den größten Teil der Wand einnimmt. Max, der beides, Bierbank und Fernseher, dort platziert hat, legt Wert darauf, dass immer Platz für die Jungs ist. Auf der anderen Seite des Zimmers steht sein Pflegebett.

Für die Zeit, die noch bleibt, hat er eine klare Devise an den Freundeskreis ausgegeben:

"FÜR EUCH BIN ICH SO LANGE GESUND, BIS ICH NICHT MEHR BIN."

Max ist 21 Jahre alt. Fragt man danach, spult er in knapp zwei Minuten seine Krankengeschichte runter, flüssig, ohne Unterbrechung, immens aufgeräumt. Sein Brustfell ist seit dem Sommer 2021 von einem bösartigen Krebs befallen, Metastasen sind bis in das Bauchfell vorgedrungen. Er hat mehrere Chemotherapien hinter sich. Während der letzten ging es ihm so furchtbar, dass er sie abgebrochen hat. Und Max vermittelt nicht den Eindruck, als würde er leicht einknicken.

Dass er sich zu Hause befindet und nicht in einer Klinik, hat mit dem sperrigen Kürzel SAPV zu tun. Das steht für Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung. Die Menschen dahinter sind das genaue Gegenteil von sperrig. Es ist eine Gruppe unterschiedlicher Charaktere, die eines gemeinsam haben:

WO VIELE REDEN WÜRDEN, HÖREN SIE ERSTMAL ZU.

Knapp zwei Dutzend Pflegende und Mediziner gehören zum ANregiomed Palliativ-Team, dass den Landkreis Ansbach und Teile des Kreises Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim versorgt. In ihren Lebensläufen finden sich zahlreiche Weiterbildungen: Palliative Care, Pain Nurse, Wundexpertin. Sie sind alle darauf spezialisiert, körperliche und seelische Beschwerden zu behandeln. Um die Lebensqualität solange wie irgend möglich zu bewahren.

Im Körper von Max lagert Flüssigkeit ein, die über zwei Drainagen abgelassen wird. Früher musste er dafür regelmäßig in eine Klinik eingewiesen werden, heute können er und sein Vater das selbst zu Hause erledigen.

DAS IST FÜR BEIDE LEBENSQUALITÄT PUR.

Apropos: Max zeigt ein Handyfoto, auf dem ein Auto-Klassiker weiße Rauchfahnen hinter sich herzieht und ordentlich Gummi auf dem Asphalt lässt. Was man eben so macht, wenn die Straße einsam und die Stimmung bestens ist.

Er hat schriftlich festgelegt, dass dieser 3er BMW, Baujahr 1990 und ein Erbstück seines Onkels, keinesfalls verkauft wird. Der Wagen geht an seinen Bruder, der in zwei Jahren den Führerschein machen wird. Es ist eigentlich nur ein administrativer Vorgang, doch es macht das Unaussprechliche in wenigen Worten greifbar.

Alle im Palliativ-Team, die Max samt Vater und Bruder seit August 2022 betreuen, sprechen beeindruckt darüber, wie dieses Familien-Team zusammenhält und sich der Situation stellt.

ALLEN IST KLAR, WIE VIEL KRAFT DAS KOSTET.

Doch wo kommt die Energie her, mit der das Palliativ-Team seine Arbeit bewältigt? Und wo packen sie ihre Emotionen hin? Auf die Stimmung schlägt das, was sie tun, keinesfalls, denn die ist auffallend positiv.

Ulrike Schwarzbeck – herzlich, lebensbejahend, urfränkisch – startet einen Erklärungsversuch. Sie ist Pflegende mit der ursprünglichen Fachweiterbildung Anästhesie/Intensivmedizin und hat gut 20 Jahre auf Intensivstationen gearbeitet. „Die Patienten wurden eingeliefert, wir haben sie wieder aufgepäppelt und irgendwann wurden sie verlegt“, sagt Schwarzbeck. „Das war alles korrekt, doch am Ende wusste ich oft nicht, was aus ihnen geworden ist.“ Es nagte an ihr, jahrelang.

Sie berichtet im Kontrast dazu von einem jungen Krebspatienten, den sie im Herbst 2022 betreut. Er will keinesfalls in die Klinik, auch ein Pflegebett zu Hause lehnt er ab. Normalität um jeden Preis, das ist der Wunsch des Patienten. Und eine Zeit lang geht es gut. Doch dann häufen sich die Krampfanfälle, teils mit Notarzteinsätzen. An einem solchen Tag kommt Ulrike Schwarzbeck zu ihm und spürt, dass die Situation nicht mehr tragbar ist.

In Abstimmung mit dem Patienten, dem Notarzt und der Palliativstation am Klinikum Ansbach organisiert sie seine Einweisung. Dort angekommen, lindert Dr. Viola Bezold seine Beschwerden. Noch am selben Abend stirbt der Patient, sein Bruder und ein langjähriger Betreuer sind bei ihm.

Ulrike Schwarzbeck blickt kurz ins Leere, es braucht keine weiteren Worte. Sie hat dafür gesorgt, dass ein würdiges Ende möglich war. Es ist in diesem Moment so, als würde sie lange ausatmen. Yoga für die Palliativ-Seele.

PALLIATIVMEDIZIN BEDEUTET AN ERSTER STELLE LEBENSQUALITÄT. FÜR DIE ZEIT, DIE NOCH BLEIBT

Kurz darauf zieht sie ihr Laptop hervor, balanciert es auf den Knien und tippt schnell ein paar Informationen zu einem aktuellen Patienten ein. Dabei erzählt sie lachend einen Schwank, den sie dort beim letzten Besuch erlebt hat. Vielleicht sollte man erwähnen, dass Ulrike Schwarzbeck Ende fünfzig ist. Nichts an ihrer Art deutet darauf hin, abgesehen vom Erfahrungsschatz. „Die Ulli können wir zu jedem Patienten schicken“, heißt es aus dem Team. „Die kriegt das hin.“

SIE GIBT VIEL. UND BEKOMMT VIEL ZURÜCK.

Eine Generation jünger ist Elena Degelmann, eine von zwei Wundexpertinnen im Team. Sie sieht regelhaft Dinge, die andere an ihre Grenzen und darüber hinausführen würden. Menschen mit geschwächten Immunsystem haben oft Wunden, die nicht mehr verheilen, nicht selten auch mit abgestorbenen Gewebe. Diese anständig zu versorgen, hat viel mit der Würde des Patienten zu tun. Darum kümmert sich Elena Degelmann.

Im Spätsommer 2021 beginnt sie zu Wolfgang Finsterer zu fahren, der an Darmkrebs erkrankt ist. Sie erinnert sich an einen Menschen, dem hochwertiges Essen wichtig war und der selbst gut und gerne kochte. Der bis zum Schluss auf geschmackvolle Kleidung achtete. Und seinen Humor nie ganz verlor. Ende September 2022 verstirbt Wolfgang Finsterer zu Hause.

Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Sibylle Herrmann sitzt sie keine drei Monate später zusammen. Natürlich ist es traurig, aber beide lachen auch viel. Finsterer und Herrmann hatten die Erkrankung angenommen. Und das Bestmögliche daraus gemacht.

„WIR HATTEN NOCH EINE SCHÖNE ZEIT MITEINANDER“,

sagt Herrmann. „Auch wegen der Elena.“

Regelmäßig gibt es Supervisionen im Team, um das Geschehene zu reflektieren. In diesem Fall sprechen Pflegende und Mediziner, andere hören zu. Die Erlebnisse müssen raus, sonst läuft der innere Speicher über.

„ EMPATHIE KANN MAN NICHT LERNEN. UND HIER MUSS MAN DIE DINGE AUCH EIN BISSCHEN AN SICH HERANLASSEN“,

sagt Chefarzt Dr. Ralph Fricke, ein bemerkenswert ruhiger Internist. Er leitet die Palliativmedizin am Klinikum Ansbach und das SAPV-Team.

Geht er zu einem Patienten ins Zimmer, passieren stets drei Dinge: Er fragt zuerst, ob er reinkommen darf. Er nimmt sich immer einen Stuhl für das Gespräch. Und am Ende fragt er, ob der Patient noch Fragen an ihn hat. Es ist, als würde er im Nebenjob einen Klinik-Knigge verfassen.

Wie Ulrike Schwarzbeck kommt auch Dr. Ralph Fricke aus der Intensivmedizin. Auf einer großen Station in Berlin mit über 40 Behandlungsplätzen stand er „knietief im Adrenalin“, wie er es beschreibt. Ähnlich war es bei Dr. Viola Bezold, die zuletzt in Nürnberg in der Intensivmedizin arbeitete. Alle drei sind ganz bewusst zur Palliativmedizin gewechselt.

„ NIRGENDS BEKOMMT MAN SOVIEL ZURÜCK.

Und wie auf einer Intensivstation arbeiten wir hier auf Augenhöhe mit der Pflege“, sagt Dr. Fricke. „Vor allem in der ambulanten Versorgung sind sie die tragende Säule.“

Dazu gehört auch Markus Bodmer. Der Palliativpfleger wäre ebenso gut im diplomatischen Dienst aufgehoben: immer freundlich, auch in kritischen Situationen konstruktiv, dazu mit reichlich Fachwissen ausgestattet. Er ist jemand, mit dem man automatisch ein Bier trinken gehen will.

Das passt zu Wolfgang Boese, den Bodmer regelmäßig aufsucht. Der ehemalige Berufssoldat lebt mit seiner Frau in einem umgebauten Bauernhaus nahe Rothenburg. Handwerklich begabt, hat er kürzlich die Treppen zur Haustür eingeebnet und einen sanften Anstieg daraus gemacht.

„ FALLS ICH SPÄTER MAL MIT DEM ROLLSTUHL HOCHMUSS“,

sagt Boese. Er hat Prostatakrebs, die Metastasen streuen in die Knochen.

Wie alle ambulanten Patienten besitzt er eine Telefonnummer des Palliativ-Teams, die immer besetzt ist: 24/7, 365 Tage im Jahr, garantiert. Dort hebt ein Teammitglied ab, das alle Informationen im Laptop hat und keine langen Erklärungen braucht. Falls nötig, kommt die Person auch zum Patienten. Egal welche Uhrzeit, egal welche Wetterlage. Die SAPV-Dienstwagen haben nicht aus Spaß eine Allradfunktion.

Gäbe es diese Nummer nicht, müsste der reguläre Notarzt gerufen werden. Im Zweifel würde der immer einen Transport in eine Klinik befürworten, gerade weil er die Historie des Patienten nicht kennt, nicht kennen kann. Der Palliativ-Notruf ist somit ein Segen, der auch von allen so empfunden wird.

Kürzlich wählte Boeses Ehefrau die Nummer in den frühen Morgenstunden.

„ ICH HABE JEMANDEN UM SEINE NACHTRUHE GEBRACHT“,

sagt Boese noch Tage später. Es ist ihm unangenehm. Doch als er vor Schmerzen auf dem Boden kniete, sah er keine andere Möglichkeit mehr.

Markus Bodmer ermutigt ihn, das nächste Mal nicht so lange zu warten:

„ DAFÜR SIND WIR DA, DAS IST UNSER JOB.“

Aber Wolfgang Boese trägt noch immer eine soldatische Haltung in sich.

Bei Helmut Fischer ist der Krebs noch nicht so weit fortgeschritten. Doch er verbreitet sich unaufhaltsam in seiner Lunge und im Gallengang. Denn Fischer, 83 Jahre alt, hat sich gegen eine Chemotherapie entschieden.

Wenn Ulrike Schwarzbeck ihn und seine Frau Lore besucht, wird viel gelacht und weniger über Medizin gesprochen. Es geht eher um die legendären Schnitzel, die Lore Fischer jeden Mittwochabend in einem Gasthaus in Ickelheim zubereitet. Und zwar in der Pfanne, nicht in der Fritteuse.

„ ES IST WICHTIG, BEIDE JETZT KENNEN ZU LERNEN“,

sagt Ulrike Schwarzbeck. „Denn es werden andere Zeiten kommen. Dann wird nicht mehr viel gesprochen.“

Die Fischers haben drei Gewissheiten: Die Sache mit dem Krebs wird nicht besser. Sie kennen außerdem den Palliativ-Notruf, der immer besetzt ist. Und sie haben Ulrike „Ulli“ Schwarzbeck, die da sein wird.

BIS ZUM SCHLUSS.

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