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ANgesicht Magazin

LUFTRETTER

Als der Hubschrauber nachgetankt wird, hört Dr. Hermann Schröter eine vertraute Tonfolge im Leitstellenfunk. Mehrere Feuerwehr-Löschzüge und Rettungswagen werden in diesem Moment alarmiert. Irgendetwas Größeres muss passiert sein. Im Gesicht des Notarztes zeichnet sich Antizipation ab. Ist das etwas für uns? Wie lange dauert das Tanken noch? Seine Hand wandert zum Alarmmelder, der im Fliegeroverall steckt.

Keine zwei Sekunden später springen alle drei Melder der Crew an:

AUTOBAHN A 6 AN DER FRANKENHÖHE, AUFFAHRUNFALL MIT LKW, FAHRER EINGEKLEMMT.

Christoph 65 befindet sich zum Nachfüllen am Flugplatz Würzburg-Schenkenturm, günstig gelegen zum Universitätsklinikum Würzburg, wohin man soeben eine schwerstverletzte Patientin aus der Klinik Rothenburg verlegt hat. Jetzt lässt Pilot Sven Uhmann die Maschine an und fliegt 60 Sekunden später mit einer Linkskurve aus dem Flugplatzgelände heraus. Die Würzburger Innenstadt und die Festung Marienberg gleichen aus gut 200 Metern Höhe Gebäuden einer Modelleisenbahn. Die Vogelperspektiven-Idylle wird nicht lange anhalten.

Die erste Rückmeldung von der Autobahn bestätigt die Alarmierung: Der Lkw-Fahrer ist im Führerhaus eingeklemmt. Dr. Hermann Schröter hört den Funkspruch und zieht ein paar blaue Einmalhandschuhe über. Der Anästhesist fliegt seit 1995 in der Luftrettung und hat dieses Szenario zigmal abgearbeitet. Doch auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert liegt sein Motivationsgrad bei spürbaren 100 Prozent.

SCHRÖTER SITZT IN DER KABINE WIE EIN SPRINTER, DER ENDLICH AUS DEN STARTBLÖCKEN WILL.

Mit an Bord an diesem Dienstag im Februar ist HEMS TC Constanze Decker. Die Abkürzung steht für „Helicopter Emergency Medical Services Technical Crew Member“. Vereinfacht gesagt ist Decker eine erfahrene Notfallsanitäterin des Bayerischen Roten Kreuzes in Ansbach mit einer speziellen Ausbildung für den Rettungshubschrauber. Sie sitzt vorn links neben dem Piloten und unterstützt ihn jetzt insbesondere beim Anflug auf die Autobahn. Nach der Landung greift Decker mit Dr. Schröter nach den Notfallrucksäcken und läuft zur nahen Unfallstelle. Es wimmelt von Einsatzkräften.

Der eingeklemmte Fahrer ist bei Bewusstsein und seine Schmerzen deutlich vernehmbar. Dr. Schröter legt einen Zugang über den linken Unterarm und verabreicht Schmerzmittel und weitere Medikamente. Dann zieht er sich ein paar Meter nach hinten zurück, immer im Augenkontakt mit Constanze Decker.

Die Notfallsanitäterin steht auf einem Podest und behält den Überblick, während die Feuerwehr die Rettungsschere ansetzt, um das Lkw-Führerhaus aufzuschneiden. Sie ist auf der ADAC-Luftrettungsstation in Dinkelsbühl eine eher stille Person und zwischen den Einsätzen oft in Unterlagen vertieft. Doch als eine Leitung zur Sauerstoffmaske des Fahrers abzureißen droht, verschafft sie sich mühelos Gehör – bei gut einem Dutzend Feuerwehrmännern und über den Verkehrslärm der anderen Fahrspur hinweg. Alle halten für einen Moment inne. Die Leitung wird umgelegt und der Sauerstoff fließt ungehindert weiter.

Es dauert 45 Minuten, bis der Fahrer aus dem Lkw ist und erstmal in den Rettungswagen kommt. Gemessen am Unfallgeschehen ist sein Zustand stabil, es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr. Doch das kann sich schnell ändern, vor allem bei einer inneren Verletzung. Dr. Schröter, Decker, ein zweiter Notarzt und eine weitere Notfallsanitäterin machen den Patienten transportfähig. Zielklinik ist heute zum zweiten Mal die Uniklinik Würzburg, Flugzeit gut 20 Minuten.

Wie schnell eine innere Blutung lebensgefährlich wird, zeigt der Einsatz unmittelbar vor dem Autobahnunfall. Eine Frau wurde offenbar von einer Kuh getreten oder überrannt, die genauen Umstände sind unklar. Bevor der Rettungsdienst eintrifft, ist sie noch in der Lage, eine Dusche zu nehmen.

DOCH IN DER KLINIK ROTHENBURG VERSCHLECHTERT SICH IHR ZUSTAND RAPIDE.

Die Diagnostik zeigt einen Riss der Leber und der Milz sowie eine Blutung im Bauchraum.

Christoph 65 wird für eine Notfallverlegung alarmiert. Zeit ist im Rettungsdienst immer ein Faktor, doch jetzt könnte er entscheidend sein. Die Verletzung im Bauchraum muss behandelt werden, sonst verblutet die Patientin innerlich. Als die Hubschrauber-Crew den Schockraum der Klinik Rothenburg erreicht, herrscht dort Hochbetrieb. Mediziner und Pflegende versuchen, die Patientin für den Lufttransport zu stabilisieren.

SIE IST IN EINEM ÄUSSERST KRITISCHEN ZUSTAND.

Nur auf den wenigen Metern zum Hubschrauber drückt Constanze Decker zwei Blutkonserven in sie hinein, im Flug folgen weitere. Die Crew arbeitet zügig, nie hektisch. Bevor Christoph 65 abhebt, geht Decker noch eine kurze Checkliste durch – wie vor jedem Start. Sicherheit ist hier allen heilig.

Dazu ist die Arbeitsdichte hoch und ein Zwölfstundentag die Norm – Tendenz steigend. Das ist kein Stimmungskiller, denn niemand wurde hierherbeordert. Alle in der Crew haben sich für den Einsatz im Hubschrauber beworben. Derzeit fliegen vier ANregiomed-Intensivmediziner auf dem Christoph 65: Dr. Bernd Zollhöfer und Dr. Thomas Seiferlein aus der Klinik Dinkelsbühl sowie Dr. Sebastian Eibicht und Dr. Thomas Maiwald aus dem Klinikum Ansbach. Alle sind Anästhesie-Oberärzte und haben jahrelange Erfahrung im Rettungsdienst.

Geht ein Alarm ein, hat der Einsatzort oberste Priorität. Was genau für ein Notfall vorliegt, ist nicht entscheidend, die Adresse jedoch schon.

Der Luftraumbeobachter, quasi das Bodenpersonal der Station, öffnet die Hangartore und fährt die Maschine über ein Schienensystem vor die Halle (im Sommer steht der Hubschrauber schon im Freien). Zeitgleich wechselt die Crew in ihre schweren Stiefel und zieht die Helme über. Der Pilot ist als Erster im Cockpit und zündet die beiden Turbinen. 1.600 PS werden wach.

Während der Notarzt hinter dem Piloten seinen Platz einnimmt, überwacht der HEMS TC das Anlassen und steigt als letztes Crewmitglied vorn links zum Piloten. Es folgt die schon erwähnte Checkliste. Sie beinhaltet, dass alle im Hubschrauber artikulieren, zum Start bereit zu sein.

KEINE ZWEI MINUTEN NACH DER ALARMIERUNG SIND DIE KUFEN IN DER LUFT.

Zur Komplexität der Arbeit gehören auch zwei Funkfrequenzen, die gleichzeitig auf den Kopfhörern laufen. Die Kanäle der Rettungsleitstelle und des Flugfunks bilden ein Konglomerat an Funksprüchen, die ein ständiger Begleiter in der Luft sind. Dazu kommt die Kommunikation innerhalb der Kabine.

EINEN GEEIGNETEN LANDEPLATZ AN DER EINSATZSTELLE ZU FINDEN, IST DIE TÄGLICHE HERAUSFORDERUNG DER CREW.

Baulücken, Parkplätze und Kreuzungen werden gerne genommen. Die Piloten schaffen es regelmäßig, die Maschine auf einer Fläche abzustellen, wo andere Mühe haben, einen Mittelklassewagen im ersten Versuch einzuparken.

Dabei öffnet der HEMS TC im Landeanflug die linke Cockpit-Tür und blickt direkt unter den Hubschrauber, um Hindernisse zu erkennen. Als die Crew beim dritten Einsatz des Tages auf einer T-Kreuzung in einem Wohngebiet in Scheinfeld heruntergehen will, entdecken Constanze Decker und Pilot Sven Uhmann gleichzeitig ein Kabel, das zwischen zwei Laternenmasten gespannt ist, die ansonsten weit genug auseinanderstehen. Uhmann stoppt den Sinkflug und landet auf einem nahegelegenen Sportplatz, den er schon vorab als Ausweichort abgespeichert hatte.

Als wenige Tage später Christoph 65 zu einer leblosen Person im Wald gerufen wird, ist die Landung ebenfalls tückisch. Der Patient soll sich in einem Pkw befinden, die genaue Position ist nicht bekannt. Die Crew sichtet den Rettungswagen am Waldrand. Pilot Jens van Ofen fliegt in ein schmales Tal ein und will auf dem Wiesengrund hinuntergehen. Wenige Meter über dem Boden – HEMS TC Constanze Decker hat wieder die linke Cockpit-Tür geöffnet – wühlt der Abwind des Rotors eine Wasserfläche auf, die durch das Gras verdeckt war. Die gesamte Fläche ist morastig.

JENS VAN OFEN BRICHT DIE LANDUNG AB UND FLIEGT WIEDER AUS DEM TAL HINAUS.

Notarzt Dr. Sebastian Eibicht und HEMS TC Constanze Decker müssen mit den Notfallrucksäcken zuerst durch einen Stacheldrahtzaun und anschließend einen rutschigen, mit Restschnee bedeckten Hang hinunter. Doch sie können nichts mehr ausrichten.

Die Person im Auto ist verstorben, eine Reanimation nicht mehr möglich. Constanze Decker kümmert sich um eine aufgelöste Angehörige, die mit im Wagen saß. Der Ort ist so schwer zugänglich, dass die Sanitäter des Rettungswagens noch immer einen Weg zu Fuß suchen.

Die Polizei wird hinzugezogen, da ein festgefahrener Pkw mit einer toten Person Fragen aufwirft. Es ist ein standardisiertes Vorgehen ohne jeglichen Anfangsverdacht. Bis die Streife die Rückegasse erreicht, ebenfalls zu Fuß, vergeht einige Zeit.

Verstorbene Personen gehören zum Alltag der Luftretter. Wer das zu nahe an sich herankommen lässt, besteht nicht lange im Rettungsdienst. Doch Illusionen sollte man sich auch keine machen.

JEDER IM TEAM ERLEBT EINSÄTZE, DIE ER NICHT VERGESSEN WIRD.

Und in irgendeiner Form mit nach Hause nimmt.

Reden hilft. Immer. Auf dem Rückflug spricht die Crew nochmal über den Einsatz. Sie muss bereit sein für die nächste Alarmierung.

Drei Tage später hat Dr. Bernd Zollhöfer Dienst beim Christoph 65. Er ist Oberarzt der Anästhesie an der Klinik Dinkelsbühl und Ärztlicher Leiter des Hubschraubers. Nachmittags kommt eine Alarmierung aus Baden-Württemberg, was nicht unüblich ist. Ein gutes Drittel der Einsätze findet jenseits der Landesgrenze statt.

Als sie gerade ins Ländle einfliegen, kommt der genaue Einsatzgrund:

TABLETTENINTOXIKATION BEI EINEM TEENAGER.

Das Flugziel ist ein kleines Dorf im Ostalbkreis, von oben gesehen die reinste Idylle.

Die 15-Jährige hat Schlaftabletten aus zwei Packungen geschluckt. Als die Situation unter Kontrolle ist und die Patientin im Rettungswagen liegt, sind nur Dr. Zollhöfer und ein Notfallsanitäter bei ihr – niemand von der Familie. Und der Notarzt nutzt den Moment für ein Gespräch in neutraler Umgebung.

Er ist zugewandt, vollkommen vorurteilsfrei und nimmt sich Zeit. Die Patientin hat seine ganze Aufmerksamkeit. Und schon nach ein paar Augenblicken ist klar, dass es ihr egal war, ob sie die Episode überlebt. Eine wichtige Erkenntnis für die weitere Behandlung in der Zielklinik.

Dr. Zollhöfer bedankt sich für ihre Ehrlichkeit. Der Austausch im Rettungswagen ist vielleicht das beste Gespräch, dass sie seit langem geführt hat.

Eine Woche nach der Notfallverlegung von der Klinik Rothenburg in das Universitätsklinikum Würzburg ruft Dr. Hermann Schröter mit guten Nachrichten bei Stationspilot Sven Uhmann an. Die Patientin mit den schweren inneren Verletzungen hat mehrere Operationen überstanden und wurde von der Beatmung genommen. Fürs Erste ist sie über den Berg.

OHNE DEN EINSATZ VON CHRISTOPH 65 HÄTTE SIE KEINE ÜBERLEBENSCHANCE GEHABT.

Schröter und Uhmann sind beide grundsätzlich sachliche Typen. Man darf sich aber vorstellen, wie ein Lächeln über ihr Gesicht huscht, als sie miteinander telefonieren.

MENSCHEN LEBEN, WEIL CHRISTOPH 65 FLIEGT. 365 TAGE IM JAHR. BEI FAST JEDEM WETTER.