ZEIT BEDEUTET GEHIRN
Wenn sie am Schreibtisch sitzt, steht links hinter Dr. Julia Köhn ein gerahmtes Kunstwerk. Darauf abgebildet ist eine Reihe von Mäusen, so nannte sie ihr Team auf der neurologischen Intensivstation des Universitätsklinikums Erlangen, wo sie bis zu diesem Sommer arbeitete. Ihre Mäuse haben nicht einfach zusammengelegt und der scheidenden Oberärztin ein Geschenk besorgt. Sie machten sich die Mühe, etwas Einmaliges anzufertigen. Etwas, das mit Geld nicht zu kaufen ist. Die Mäuse links hinter Dr. Julia Köhn geben Auskunft darüber, was für einen Umgang sie pflegt.
Dazu gehört, dass Julia Köhn korrekterweise PD Dr. Julia Köhn heißt. Die Abkürzung steht für Privatdozentin. Sie ist also eine habilitierte Wissenschaftlerin mit Lehrberechtigung, der nächste Schritt wäre eine Professur. Zudem leitet sie als Chefärztin seit Oktober 2023 die Klinik für Neurologie an den ANregiomed-Standorten Ansbach und Dinkelsbühl. Doch wenn sie bei der Visite vor dem Patienten steht, sagt sie meist nur: „Mein Name ist Köhn, ich bin Neurologin. Wie geht es Ihnen heute?“ Standesdünkel gehört nicht zu ihrem Repertoire. Die Mäuse in Erlangen können das bezeugen.
Sie widerlegt auch die These, dass es zwingend ausgefahrene Ellbogen braucht, um mit gerade mal 40 Jahren Chefärztin zu werden (siehe auch Dr. Markus Sporkmann, ANgesicht Nr. 04). Ihr Auftreten ist bestimmt, aber nie bestimmend. Sie hört ihrem Team zu, das deutlich mehr Zeit beim Patienten verbringt, als sie es je könnte.
UND SIE HÖRT DEN PATIENTEN MIT TEILS GROSSER GEDULD ZU.
Diese Informationen braucht sie, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
AUFFÄLLIG IST AUCH IHR TONFALL, DER MIT ANGENEHM NUR MÄSSIG BESCHRIEBEN IST.
Sie hat das in ihrer Medizinerkarriere auch anders erlebt. Und sich geschworen, nicht selbst so zu werden. Dazu gehörten auch Visiten, bei denen der Chefarzt samt Entourage quasi im Laufschritt die Patienten begutachtet und am Ende niemand wirklich schlauer ist. Sie nennt so etwas „Show-Visiten“, die man bei ihr vergeblich suchen wird.
SCHON ALS SIE DAS ERSTE MAL ALS TEENAGER ÜBER EINEN BERUF NACHDACHTE, WOLLTE SIE ÄRZTIN WERDEN.
Julia Köhn kommt aus keiner Arztfamilie, ihr wurde der Weg nicht vorgegeben. Doch Medizin war bei ihr gesetzt. Das Einser-Abitur kam dann quasi zwangsläufig, weil sie sonst keine Chance auf ein Medizinstudium gehabt hätte.
An der Universität Erlangen studierte sie auf Pädiatrie hin. Sie wollte Kinderärztin werden und machte auch Praktika in dieser Richtung. Doch ein Dienst auf der Schlaganfallstation änderte ihre Sichtweise. Neurologie fühlte sich für sie unmittelbar besser an.
Und tut es bis heute. Schlaganfälle sind ihr Hauptaufgabengebiet.
„WIE DER NAME SCHON SAGT, KOMMT ER SCHLAGARTIG, VON JETZT AUF GLEICH“,
sagt Dr. Köhn. „Plötzlich können Sie am Tisch die Kaffeetasse nicht mehr greifen. Das Sprechen fällt schwer, Sie sehen die Dinge nicht mehr richtig. Die ganze Motorik des Körpers ist gestört.“ Dann ist es zu einer Durchblutungsstörung im Gehirn gekommen. Es fließt nicht mehr genug sauerstoffreiches Blut in die Zellen, die darauf sehr sensibel reagieren. Ab diesem Zeitpunkt beginnt ein Rennen gegen die Uhr.
„Time is brain“ – das ist der Leitsatz in der Neurologie. Frei übersetzt bedeutet er:
JE MEHR ZEIT VERGEHT, DESTO MEHR GEHIRNZELLEN STERBEN AB.
Jede Sekunde eines nicht behandelten Schlaganfalls raubt drei Wochen Lebenszeit. Jede Sekunde.
Nur ein Notruf kann das stoppen. Am anderen Ende der Rufnummer 112 muss man nicht viel erklären. Was ist passiert? Wie ist der Name, wie lautet die Adresse? Vielleicht noch das Stockwerk. Nach ein paar Minuten nähert sich das Martinshorn.
Die Neurologie ist eine vergleichsweise junge Fachrichtung. Erst seit etwa dreißig Jahren ist der Schlaganfall tatsächlich behandelbar. Die Auflösung eines Gefäßverschlusses mit Medikamenten bezeichnet man als Thrombolyse – oder kurz Lyse-Therapie. Dabei wird mittels Infusion ein Enzym verabreicht, das Blutgerinnsel in den Hirnarterien auflösen kann. Diese Art der Behandlung wurde 1993 erstmals zugelassen. Sie stellt einen Wendepunkt in der Schlaganfallbekämpfung dar.
DAMIT ES IM GEHIRN NICHT ZU BLEIBENDEN SCHÄDEN KOMMT, MUSS DIE LYSE-THERAPIE SCHNELL ERFOLGEN.
Laut der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) gibt es ein Zeitfenster von maximal 4,5 Stunden nach Auftreten des Schlaganfalls. Aus diesem Grund fragt die Rettungsleitstelle während des Notrufs auch immer nach, seit wann die motorische Beeinträchtigung vorliegt.
Doch auch hier entwickelt sich die Medizin ständig weiter. Der bisher vorgegebene Zeitraum ist keineswegs in Stein gemeißelt. Es wird daran geforscht, mit welchen Medikamenten man zu welchem Zeitpunkt den Schlaganfall noch besser in den Griff bekommen kann. „In den letzten zehn Jahren hat es eine ganze Reihe großer Studien gegeben, die Entwicklung ist enorm“, sagt Dr. Julia Köhn. Der Austausch dazu findet auf Kongressen weltweit statt, bei denen der Name Köhn kein unbekannter ist.
Zur Realität gehört aber auch, dass viele Patienten nach einem Schlaganfall „nicht mehr so nach Hause gehen, wie sie es zuvor gewohnt waren“, sagt Dr. Julia Köhn. „Doch die Beeinträchtigungen sind oft viel geringer, als sie es noch vor ein paar Jahren gewesen wären.
WIR HABEN HEUTE ANDERE MÖGLICHKEITEN.“
Das nur ältere Menschen von einem Schlaganfall betroffen sein können, ist ein Mythos. Ein Gang über die Schlaganfallstationen in den Kliniken Ansbach und Dinkelsbühl räumt schnell damit auf. Hier finden sich auch Patienten jeglichen Geschlechts, die das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Und deren Anzahl nimmt ständig zu. Oft sind es kleine Schlaganfälle, die man jedoch nicht unterschätzen darf.
Kann man sich vor einem Schlaganfall schützen? Eigentlich nur durch einen gesunden Lebenswandel. Sich möglichst viel bewegen und weniger rumsitzen. Die Treppe anstatt den Aufzug nehmen. Auf keinen Fall rauchen und nur wenig Alkohol trinken. Auf eine ausgewogene Ernährung achten. Weniger Leberkässemmeln, mehr Salat und Obst. Im Grunde also nichts Neues.
Dr. Julia Köhn schafft es derzeit, zweimal in der Woche Sport zu machen. Bei ihrem Arbeitspensum als neue Chefärztin ist das durchaus bemerkenswert. Das Licht in ihrem Büro im Klinikum Ansbach ist meist lange an. Sie habe immer viel gearbeitet, auch schon während des Studiums. Anders sei es für sie nicht vorstellbar.
„MAN MUSS FÜR DIESE AUFGABE BRENNEN UND LEBEN“,
sagt Dr. Julia Köhn.